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Titel
»vor den Richterstuhl der Zeitgenossen und der öffentlichen Meynung«. Der Fall des preußischen Staatsdieners und Spätaufklärers Hans von Held


Autor(en)
Joisten, Anna
Reihe
Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte
Erschienen
Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
557 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Stimmer, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Kaum ein „Einzelschicksal aus der zweiten Reihe“ (S. 12) erfuhr in der Vergangenheit eine derart ambivalente historiographische Bewertung wie der schlesische Beamte Hans von Held (1764–1842). Im spätaufklärerischen Geheimbundmilieu sozialisiert, tat sich der in der 1793 nach der Zweiten Teilung Polen-Litauens gebildeten Provinz Südpreußen mit Fragen des Akzise- und Zollwesens betraute Held rasch als vehementer Kritiker des zeitgenössischen Patronage- und Klientelsystems sowie allgemein eines als ineffizient und ungerecht gebrandmarkten Staatsapparats hervor, wofür ihn die Historiographie des 19. Jahrhunderts wahlweise zum Vorkämpfer für demokratische Ideale, „Jakobiner“ oder aufrührerischen „Rumorgeist“ stilisierte (S. 17–21). Inhaltlich anknüpfend an den 2018 erschienenen Begleitband zu der von Joachim Bahlcke und Anna Joisten konzipierten Wanderausstellung Wortgewalten1, der neben der Person Helds auch die südöstliche Peripherie der Hohenzollernmonarchie als (Handlungs-)Raum näher beleuchtete, liefert die vorliegende Dissertationsschrift nun eine umfangreiche biographische Studie zu dieser mehrdeutigen Persönlichkeit im Kontext des Funktionswandels publizistischer Öffentlichkeit um 1800.

Gemäß ihrer Schwerpunktsetzung konzentriert sich die Darstellung auf die Zeit von Helds publizistischem Wirken zwischen 1790 und 1810. Gefragt wird konkret nach dessen Verortung in einer sich konstituierenden politischen Öffentlichkeit und dem Verhältnis zwischen Zeittypischem und Außergewöhnlichem, also zwischen der Eingebundenheit Helds in den Struktur- und Mentalitätswandel seiner Zeit und der spezifischen agency des nonkonformen Beamten. Dabei speist sich das Quellenkorpus aus Helds publizistischem Werk – ein vollständiges Werkverzeichnis inklusive zahlreicher anonym veröffentlichter Beiträge ist der Bibliographie beigefügt –, Selbstzeugnissen, zeitgenössischen Druckmedien, darunter bislang kaum bekannte Publikationsorgane wie die südpreußischen Periodika, und amtlichen Quellen. Besonders hervorzuheben sind darunter die in der älteren Historiographie wenig berücksichtigten Prozess- und Zensurakten.

Dem eigentlichen Hauptteil der Arbeit ist zunächst ein Überblick zum Nexus „Staatsdienst und Öffentlichkeit um 1800“ vorangestellt (S. 35–81). Anhand der Systematisierung und Verfachlichung der Beamtenausbildung in der Hohenzollernmonarchie wird der sukzessive Wechsel von der patrimonialen zur bürokratischen Herrschaft (Max Weber) nachgezeichnet, der im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer charakteristischen Koexistenz dieser beiden Dienstverständnisse führte. Zeitgleich formierte sich eine zunehmend politische Öffentlichkeit „als Raum zur Äußerung von Kritik, als urteilende Instanz und Korrektiv zu den Vorstellungen der herrschenden Autoritäten“ (S. 52), wobei die Bedingungen publizistischer Arbeit in Konfrontation mit den sich ebenfalls verändernden Zensurbestimmungen der preußischen Staatsmacht stets neu verhandelt werden mussten. Die Verfasserin macht deutlich, dass insbesondere mittlere Beamte, deren Bedeutung für die Aufklärungsdiffusion in Preußen allgemein als hoch einzuschätzen ist, als Träger dieser neuen politischen Öffentlichkeit fungierten. Ihre ausgeprägte Staatsloyalität kontrastierte dabei zunehmend mit der in einem neuen Amtsverständnis wurzelnden Kritik an adligem Ämterprivileg und Klienteldenken.

Im folgenden Kapitel schildert die Autorin Helds frühe Prägungen und Netzwerke. Ins Auge fällt zunächst die Rolle aufklärerischer Bildungsinstitutionen, erschien es dem in Züllichau und Berlin sozialisierten Held doch offenkundig paradox, „dass an den Schulen […] Werte vermittelt wurden, die in der Gesellschaft keine praktische Anwendung finden sollten“ (S. 90). Diese Grundhaltung schärfte sich nach einer Studienzeit, die durch die Mitgliedschaft im studentischen Konstantistenorden geprägt war, an praktischen Erfahrungen in den Provinzialverwaltungen Schlesiens und Südpreußens, die zwischen 1795 und 1798 unter dem für seine adelsfreundliche Personalpolitik bekannten Minister Karl Georg von Hoym vereinigt waren. Hier beteiligte sich Held an zwei Geheimgesellschaften, dem Evergetenbund sowie dem radikaler ausgerichteten „Moralischen Vehmgericht“, und wurde wegen der publizistischen Unterstützung für seinen verhafteten Freund Joseph Zerboni strafversetzt. In der Nachzeichnung dieser Handlungsräume, die sich für bürgerliche Beamte fernab des politischen Zentrums Berlin unter den spezifischen Bedingungen der Peripherie eröffneten und die bislang auch in der Forschungsliteratur peripher behandelt wurden2, liegt zweifellos eine der großen Stärken des Buches.

Die folgenden beiden Kapitel widmen sich schließlich ausführlich dem „Schwarzen Buch“ Helds, einer kommentierten Sammlung von Prozessakten, die Missbräuche bei Güterverpachtungen in Südpreußen öffentlich anprangerte und ihrem Verfasser eine Verurteilung zu 18-monatiger Festungshaft eintrug, sowie dessen publizistischer Rezeption. Neben der öffentlichen Anklage von Korruption, die Held als einen patriotischen Akt der Dienstpflicht darstellte, erregte vor allem seine derbe Wortwahl vielerorts Argwohn. Explizit erhob Held jedoch „die verbale Gewalt geradezu zur Voraussetzung, um gesellschaftlichen Wandel anzustoßen“ (S. 273). Der Fall Held wurde in den Folgejahren in Berliner Aufklärungskreisen, aber auch in Südpreußen rege debattiert. Dass der gut vernetzte Skandalautor selbst über neue Veröffentlichungen und Repliken immer wieder publizistische Auseinandersetzungen anstieß, macht neben einem eigensinnigen Idealismus vor allem auch eine spezifische Strategie der Selbstinszenierung als „Underdog“ (S. 429) deutlich.

Abschließend wird Held noch im Umfeld der preußischen Reformzeit verortet, wobei neben seinem ambivalenten, wechselweise zwischen Bewunderung und Abscheu schwankenden Napoleonbild vor allem das Verhältnis zu Friedrich von Cölln und Friedrich Buchholz thematisiert wird. Auffallend ist, dass Held im Gegensatz zu vielen früheren Mitstreitern und Systemkritikern wie Zerboni nach 1806 keine Karriere mehr im Staatsdienst machte, wofür die Autorin neben zunehmender Verbitterung auch den Tod seines wichtigsten Gönners, des Ministers Carl August von Struensee, anführt. Gerade angesichts seines weitgehenden Rückzugs aus der Öffentlichkeit wird die resümierende Bemerkung, wonach sich „an Helds Wirken eine Kontinuitätslinie zwischen Aufklärung, Frühliberalismus und Vormärz erkennen“ lasse (S. 495), trotz der Anführung (national-)liberaler Äußerungen Helds mitunter zu wenig argumentiert. Eher erscheint die porträtierte Person, wie von Joisten selbst eingangs festgehalten, als Beispiel für die Persistenz spätaufklärerischer „Autorentypen, Praktiken und Diskurse“ über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus (S. 7).

Indem sie nahe an ihren Akteuren bleibt und Helds Beziehungsnetz detailreich analysiert, bietet die Monographie insgesamt ein dichtes Bild vom spätaufklärerischen Beamtenmilieu Preußens, wobei insbesondere die zahlreichen ausführlichen Quellenzitate eine Rekonstruktion der publizistischen Debatten und ihrer polarisierenden Wirkung erleichtern. Rasch stellt man zudem fest, dass die verbalen Attacken des Protagonisten auch heute nicht einer gewissen Komik und polemischen Schlagkraft entbehren, was dem Unterhaltungsfaktor förderlich ist, vor allem aber das publizistische Faszinosum Held zu begreifen hilft. Gerade angesichts der häufigen Bezugnahme auf die historiographischen Wertungen des 19. Jahrhunderts wäre indes noch eine stärkere Auseinandersetzung mit dem in der polnischen Historiographie prominenten Narrativ von der korrupten preußischen Beamtenschaft von Interesse gewesen, dem der Rückgriff auf die von Held angeprangerte „Güterverschleuderung“ in Südpreußen zur moralischen Abqualifizierung der preußischen Herrschaft diente.3

In Vorwegnahme des Leserurteils resümiert die Autorin selbst, dass eine Einordnung der „schillernde[n] Persönlichkeit Helds“, der sich in einem ambivalenten „Spannungsfeld zwischen Absolutismuskritik und Staatsloyalität“ bewegte und damit als gleichermaßen typischer wie untypischer Vertreter seiner Zeit erscheint, schwerfällt (S. 495). Tatsächlich machen ihr Facettenreichtum und ihre Widersprüchlichkeit die offenkundig zur Exzentrik neigende Person nicht immer leicht greifbar, wird gerade dadurch aber auch die stark divergierende, zwischen den Extrempolen „Querulant“ und „Märtyrer“ oszillierende Beurteilung dieser „Reizfigur“ (S. 492) durch die Zeitgenossen nachvollziehbar. Mit ihrer biographischen Studie, die vor allem durch eine umfangreiche Kontextualisierung und akribische Quellenarbeit besticht, zeichnet die Autorin das differenzierte Porträt einer Übergangszeit, in der sich unter der Oberfläche eines in vielerlei Hinsicht erstarrten bürokratischen Systems neue Vorstellungen von Dienstethos und Praktiken der Kritik Bahn brachen. Aus einer Perspektive „von unten“ und über die verbalen Frontalangriffe ihres Protagonisten, die ein radikales Öffentlichwerden von Politik provozierten, gelingt ihr jedenfalls der Beweis, „dass sich von der Staatsnähe der preußischen Spätaufklärung nicht zwangsläufig auf deren Angepasstheit schließen lässt“ (S. 13).

Anmerkungen:
1 Joachim Bahlcke / Anna Joisten (Hrsg.), Wortgewalten. Hans von Held. Ein aufgeklärter Staatsdiener zwischen Preußen und Polen, Potsdam 2018.
2 Wojciech Kunicki, „Südpreußen“ als Wirkungsfeld des radikalen schlesischen Bürgertums, in: Iwan-Michelangelo D’Aprile (Hrsg.), Europäische Ansichten. Brandenburg-Preußen um 1800 in der Wahrnehmung europäischer Reisender und Zuwanderer, Berlin 2004, S. 209–228.
3 Władysław Smoleński legte seiner überwiegend negativen Darstellung der preußischen Regierung in den vormals polnischen Gebieten etwa eine Übersetzung von Helds „Schwarzem Register“ bei, wie es im Jahr 1807 in den Neuen Feuerbränden Friedrichs von Cölln abgedruckt worden war. Władysław Smoleński, Rządy pruskie na ziemiach polskich (1793–1807), Warszawa 1886.

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